Anohni and the Johnsons: Wenn Gott dich verlassen hat (2024)

Die Trans-Sängerin Anohni hat die wohl schönste Stimme der Gegenwart und veröffentlicht gerade ein neues Album. Ihre Lieder erzählen davon, dass Hoffnung keinen Sinn hat – und davon, wie man trotzdem nicht den Mut verliert.

Von Jens Balzer

Aus der ZEIT Nr.29/2023

Veröffentlicht am
Erschienen in DIE ZEIT Nr.29/2023

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Es muss anders werden, singt Anohni zu Beginn ihres neuen Albums, "it must change", dazu spielt ihre Band einen leichten, melancholischen Groove. Eigentlich wiederholt sie fünf Minuten lang nur dieselbe kurze Harmoniefolge, doch umso wirkungsvoller erhebt sich Anohnis Stimme darüber: "It must change", das singt sie als Aufruf und Klage, als Ermutigung und doch im Bewusstsein, dass die Dinge sich nicht verändern werden, jedenfalls nicht zum Guten. Anohni singt wie eine Predigerin, sie wendet sich an die Welt und zieht sich wieder in sich zurück, sie barmt, sie lässt ihre Stimme zittern und beben. Im warmen, leichten Klang ihrer Band wirkt sie aufgehoben und zugleich hadernd und einsam – so einsam, wie alle Menschen es sind, wenn ihr Gott sie verlassen hat: "Your god is failing you / Giving you hell", heißt es am Ende. "It Must Change": das ist das schönste und ergreifendste Lied, das es in diesem Sommer zu hören gibt, getragen von der schönsten und ergreifendsten Stimme, die der Pop seit langer Zeit hervorgebracht hat. Anohni singt, wie sonst niemand singt, soulvoll, körperlich und dann immer wieder ins Körperlose umschlagend, aus dem Tenor in den Countertenor. Zwischen dem "Männlichen" und dem "Weiblichen" gibt es bei ihr keinen Unterschied mehr; das Timbre des Soul beherrscht sie so sicher wie die Phrasierungen des Folk.

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Seit sie vor einem Vierteljahrhundert die Bühne betrat, hat sie die Kunst des Pop-Lieds nachhaltig erneuert; und ihr Modell einer queeren Ästhetik hat inzwischen zwei Generationen von Künstlerinnen und Künstlern, von queeren und nicht-binären Menschen inspiriert und ermutigt. My Back Was a Bridge For You to Cross heißt ihr neues Album, das erste seit sieben Jahren; die zehn Lieder darauf handeln vom Zustand der Welt, von Verzweiflung und Scham, aber sie handeln auch von Würde und Stolz, von Tapferkeit und von dem Willen, in widrigen Zeiten sich selbst treu zu bleiben.

Wir sprechen über Video, sie sitzt in ihrer Wohnung in New York, in der Mercer Street unweit des Washington Square. Ihr Management hat ein halbes Stündchen für das Gespräch eingeplant, es werden dann fast drei Stunden, sie erzählt ihre ganze Lebensgeschichte und die Geschichte ihrer künstlerischen Entwicklung; es ist ihr wichtig, dass man begreift, wie vollgesogen ihre Musik mit Tradition ist und wie sehr sie darum kämpft, dass diese Tradition nicht vergessen wird. Ihre Kindheit hat sie im englischen Sussex verbracht. Geboren wurde sie 1971 unter dem Namen Antony, doch habe sie sich schon immer als trans identifiziert: "Du kommst durch die queen door auf die Welt – oder eben nicht; aber wenn es so ist, dann weißt du es auch." Die erste Platte, die sie sich mit acht Jahren kaufte, war The Kick Inside von Kate Bush: große, exzentrische, vor Gefühlen überbordende Musik. "Ich wurde als Junge erzogen, und Jungen war es verboten, Gefühle zu zeigen, sie sollten cool und hart sein. In der Musik habe ich andere Möglichkeiten gefunden: Ich saß vor der Stereoanlage meiner Großmutter und habe ihre Lieder mitgesungen und dazu posiert, exzentrisch, verschwenderisch, laut... Musik hat mir geholfen, zu mir zu finden, darum wollte ich schon immer Musikerin werden, wenn du so willst: um der Welt etwas von dem zurückzugeben, womit sie mich einmal beschenkte."

Als sie zehn Jahre alt war, zogen ihre Eltern mit ihr nach Kalifornien, in die Bay Area, es war die schwerste Zeit ihres Lebens: "Als ich 14 war, herrschte der Wahnsinn. Wenn ich mich anzog, wie ich mich anziehen wollte, warf die ganze Schule mit Steinen nach mir. Ich band dann so kleine Schleifen um die Steine und sagte: Hach, wie süß, danke schön für das Halskettchen!" Mit 19 flieht sie nach New York City: an den mythischen Ort der queeren Szene der Siebziger- und Achtzigerjahre, "den einzigen Ort, dachte ich, an dem ein Mensch wie ich frei leben kann". Sie will dort experimentelles Theater studieren und ihre Heldinnen und Helden treffen, Jack Smith, den Mitbegründer des schwulen Undergroundkinos, oder Charles Ludlam, den Gründer der Drag-Performance-Gruppe Ridiculous Theatrical Company. Aber als sie ankommt in New York, sind beide gerade gestorben, an Aids, wie so viele: "Das queere New York glich Anfang der Neunzigerjahre einem riesigen Friedhof. Die Stadt war wie ein Sternenhimmel, an dem plötzlich alle Sterne erloschen. Eine ganze Kultur, unsere Kultur, verschwand." Jahrelang streift sie durch Manhattan und versucht zu retten, was zu retten ist: Den Nachlass von Jack Smith findet sie "in Plastiktüten irgendwo in einem Keller bei den Piers, seine Familie hatte das einfach weggeworfen", und ein paar Bilder des schwulen Filmemachers und Malers David Wojnarowicz birgt sie aus Schutt am Rand der 10th Street.

Ihre erste Theatergruppe, die Blacklips, lässt Dragqueens in Margaret-Thatcher-Kostümen durch atomar verseuchte Müllhalden stapfen; androgyne Punks mit Kabuki-Make-up singen Lieder von Brecht und Weill, und am Ende sind alle tot. "Unsere Theaterstücke endeten damit, dass sich auf der Bühne ein riesiger Leichenberg türmte", sagt Anohni: "Camping on the grave of goth" hieß das Motto. In diesem Frühjahr ist noch ein umfangreicher Bildband erschienen, der die Arbeit der Blacklips dokumentiert, und ein Doppelalbum mit ihren Liedern (Blacklips: Her Life and Her Many, Many Deaths). Als die Gruppe zerfällt, gründet Anohni ihre erste Band: Antony and the Johnsons, benannt nach Marsha P. Johnson, einer schwarzen Drag-Aktivistin. Der Legende nach war sie diejenige, die bei den Stonewall Riots den ersten Stein warf– also bei dem ersten militanten Aufbegehren der schwulen und Drag-Szene im New York des Jahres 1969 gegen die Polizeigewalt; der Christopher Street Day wahrt bis heute das Erbe dieses Ereignisses. In den Siebzigern und Achtzigern arbeitete Marsha P. Johnson als Prostituierte, "und mit dem Geld, das sie dabei verdiente", sagt Anohni, "mietete sie Wohnungen für die obdachlosen Trans-Kids, sie war eine Heldin". 1992 kommt sie unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben, man zieht ihre Leiche aus dem Hudson River.

Zehn Jahre lang spielen Antony and the Johnsons in kleinen und kleinsten Clubs in Manhattan und bringen zwei Platten auf einem britischen Independent-Label heraus, I Fell in Love With a Dead Boy heißt eine davon. Der Tod ist immer anwesend in dieser dramatischen Musik; aber auch der unbedingte Wille zum Leben; der Wille zum Werden, zur Transition. Zum Fliegen: "Ich bin jetzt ein Vogel", I Am a Bird Now, heißt das Album, mit dem Antony and the Johnsons 2005 ihr erster großer Erfolg glückt – Lou Reed hat sie irgendwo in New York entdeckt und an eine große Plattenfirma vermittelt, auf seiner Tour im Jahr 2003 hatte er schon Anohni als Gast mitgenommen und ließ sie unter anderem Candy Says singen, das stille und traurige alte Velvet-Underground-Stück über den später an Leukämie gestorbenen Warhol-Superstar-Transvestiten Candy Darling. Auf dem Cover von IAm a Bird Now ist Candy Darling auf ihrem Totenbett zu sehen, zusammen mit einer Rose, ein Bild der Vergänglichkeit und des Stolzes; Hope There’s Someone heißt ein Lied auf dem Album: "Hope there’s someone / Who’ll take care of me / When I die", gesungen zu kammermusikalischer Begleitung, mit zitternder, doch zugleich voller, das Leben feiernder Stimme.

Anohni and the Johnsons: Wenn Gott dich verlassen hat (2024)
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Author: Rob Wisoky

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